MATER DOLOROSA

Heute möchte ich ganz herzlich Herrn Pfarrer Bernhard Schelenz von der katholischen Pfarrkirche St. Peter und Paul in Naumburg danken, der mir die Erlaubnis gegeben hat, Bilder von der „Pietà“ zu veröffentlichen, die im linken Ende der Vorhalle dieser Kirche steht. Die „Naumburger Meisterin“, wie wir sie familienintern scherzhaft nannten, Grete Tschaplowitz-Seifert, hat sie irgendwann im Laufe der 60er Jahre geschaffen.

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Mein Lehrer Rudolf Kuhn hat geistvolle Ausführungen zur Mehransichtigkeit von Skulpturen entwickelt. Eher zufällig entdeckte ich bei einem Besuch in Naumburg mit Freunden die Gruppe in der Ecke des Narthex, der Vorhalle, und habe dabei versäumt, darauf zu bestehen, dass das Andachtsbild in seiner Hauptansicht photographiert wird: die ist absolut frontal, bildmäßig.  Eine in dieser Hinsicht präzise Aufnahme haben wir deshalb bislang nicht.

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Die Auffassung der ganzen Gruppe ist mehr kubisch blockhaft. Weshalb ich nicht auf der Sicht von einem Winkel von 45° bestehen würde. Allgemeiner gesprochen ist die Seitenansicht aber wichtig. Wir kommen darauf.

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Die erste Erinnerung aus der Korrespondenz meiner Altvorderen ist, dass meine Großmutter unglücklich und nachhaltig verstimmt war, weil ihr Wunsch, dass ihre in Ton modellierte Plastik in Stein (vielleicht Steinguss?) umgesetzt werden sollte, nicht befolgt wurde. Ihre ganze Auffassung passe nicht zu einer Holzskulptur. Das Material spricht mit: der Schmerz versteinert, wohingegen eine hölzerne Umarmung nicht sehr fasziniert.

Theologisches Stirnrunzeln mag zu Recht die Tatsache verursachen, dass alle Zeichen der physischen Leiden fehlen: weder Dornenkrone noch Wundmale. Es kommt der Verdacht auf, dass hier eine Mutter ihren Mutterschmerz gestaltet hat und sich ganz energisch auf die seelische Seite der Sache konzentrierte. Ich weiß, dass sie sich mit Käthe Kollwitz und ihrer Auffassung des Themas befasst hat. Schließlich hatte sie immerhin den slawischen Witz im Namen mit ihr gemeinsam. Die 1937  geschaffene Kleinplastik wurde später auf Anregung von Helmut Kohl ins Große übertragen und reflektiert den Tod des im 1. Weltkrieg gefallenen Sohnes der Künstlerin. Beide Mütter sind betont unelegant, sollen sich vielleicht unbewußt von der „beltà italiana“ des übermächtigen Vorbilds des Michelangelo Buonarroti absetzen. Bei Käthe Kollwitz spielt auch ihr erklärt proletarisches Schönheitsideal eine Rolle, bei der sehr untersetzt sitzenden Mutter von Grete Tschaplowitz mag die eigene pyknische Physis im Hintergrund stehen. Sie war eine ganz schöne Matka und hatte im zuständigen sozialistischen Künstlerverband den nicht sehr schmeichelhaften Spitznamen „Brausefass“, weil sie zwar sehr umgänglich, aber auch für ihre Zornesausbrüche gefürchtet war: „das Weiche und Wilde der Slawen“, wie es Thomas Mann einmal sehr zutreffend genannt hat.

Bei Käthe Kollwitz ist das Kreatürliche, die direkte Beziehung zum Vorgang der Geburt sehr im Vordergrund. Bei  Barlach und auch bei der Kollwitz hat man manchmal den Eindruck, dass ihnen der Schock durch Darwins Evolutionstheorie doch sehr tief in den Knochen steckte. Doch es sind die wunderbaren Hände sowohl der Mutter als auch des Sohnes, die jede Anmutung von Affenliebe vergessen machen.

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Dieses Mahnmal ist gewissermaßen die sozialistische Wiedergutmachung für ein gräßlich hasserfülltes Diktum Bert Brechts – in Richtung Nazismus ausgestoßen: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“

Die Rechte hat sie sinnend an den Mund geführt, vielleicht auch um sich ein Schluchzen zu verhalten; und um sich den Blick auf den zwar himmelwärts gerichteten, aber erloschenen oder gebrochenen Blick des Sohnes zu verdecken. (Auch wir sehen ihn nicht!)  Mit der linken hebt sie in einer wunderbar zarten Geste die leblosen Finger des Sohnes,  und ihr Sinnen geht vielleicht zurück zu der Zeit als er noch ein Säugling, ein Kleinkind war und sie mit seinen Fingerchen spielte. Das ist verhalten und erschütternd zugleich: ganz groß!

Kompositorische Festigkeit erhält die Gruppe an den Orthogonalen in Kopf und Hand: den Horizontalen im Handrücken der rechten Hand und in den Augenbrauen, den Vertikalen in ihrem Nasenrücken (und der Kehle des Sohnes).

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Während das Werk der Kollwitz durchaus als Rundplastik aufgefasst ist, hat die untersetzte Pietà meiner Großmutter wie gesagt eine kubische Qualität. In der frontalen Ansicht ist die Vertikale nachdrücklich in den fest aufstehenden Unterschenkeln betont; die Horizontale nicht weniger in den den Leichnam fest anziehenden Unterarmen.

Mir fällt dazu der berühmte „Kuss“  des rumänischen Bildhauers Konstantin Brancusi ein, der, auch wenn Brancusi das nie so unumwunden einbekannt hat, eine pointierte Erwiderung auf die gleichnamige Plastik Rodins ist, die etwa zwanzig Jahre früher entstanden war: bei jenem ein Wunderwerk französischer Feinnervigkeit – bei dem Rumänen schlagen die beiden Küssenden mit der elementaren Gewalt von Magnetblöcken aufeinander. Mag sein, dass das auch einen Unterschied bezeichnet zwischen französischer und slawischer Auffassung von Zärtlichkeit. Etwas davon ist auch in der Pietà der Tschaplowitz.

Zusätzlich muss man allerdings die abstrakt-gedankliche Auffassung bei dieser Gruppe betonen: die Entzogenheit des Sohnes wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sein Oberkörper, Kopf, linker Arm und Knie einen Binnenraum umschließen, der der Mutter unzugänglich ist. Das verarbeitet auf eine moderne, nur im 20. Jahrhundert mögliche Weise intellektuell die überaus schmerzliche Erfahrung der Mutter: der Sohn, der ihr auch als Künstler ein lebensnotwendiges Gegenüber war, lebte zwar, aber zunehmend in einer ihr entzogenen Welt. So berührt sie den Toten in stummer Verzweiflung mit den Lippen; ihre Augen sind geschwollen und von Tränen blind.

                 P1000132Auch das Gesicht des Sohnes ist von Kümmernis gezeichnet, und sein Haupthaar fällt pfundschwer. Es geht nicht um Melancholie, sondern um Schwermut, ein Wort, für das es in den westeuropäischen Sprachen keine genaue Entsprechung gibt. Denken wir an das grandiose, stumme Pathos des Gekreuzigten von Velazquez, dem das schwarze Haar ins Gesicht fällt wie eine Sonnenfinsternis, wie ein „härener Sack“: das ist Schwärze, Melancholie.P1000125P1000126

„Wir alle fallen. Diese Hand da fällt./ Und sieh dir andre an: es ist in allen.“

Rainer Maria Rilke, Herbst, Buch der Lieder

Hier ein Bild von meiner Großmutter an einem kleinen Tonmodell für diese Gruppe:

Bozzetto für die Pietà 001