GRETE TSCHAPLOWITZ-SEIFERT (1889 PROSKAU, Kreis OPPELN – 1977 NAUMBURG an der SAALE)

Peter Seifert sen. Aquarell 27cm x 34 cm 1942

Peter Seifert sen., Aquarell 27cm x 34 cm
1942

Die Familiengeschichte von Grete Tschaplowitz ist bekannter als die ihres Mannes, die immer merkwürdig blass blieb („das Vogtland“). Sie war Oberschlesierin und empfand sich selbst als östlich, ostdeutsch, auch wenn die Familie schon in ihrer Kindheit nach Sachsen umgesiedelt war. Ihr Vater war Naturwissenschaftler, dessen Doktorarbeit über Gräser noch greifbar ist. Er war später Besitzer einer Apotheke.  Die wirklich große Zeit der Familie muss auf der Ebene der Urgroßväter gelegen haben. Ein gewisser Carl Heer war Leibarzt der Herzogin von Württemberg und erhielt einen Briefadel. Meine Großmutter trieb auf schwer nachvollziehbaren Wegen sporadisch Ahnenforschung und stieß auf ein Mitglied der „Böhmischen Brüder“, dessen Vorfahren wohl aus Ungarn stammten. Der Familienname Heer kam aus dem Allemannischen, vermutlich aus dem Elsass. Meine Großmutter und mein Vater teilten die Überzeugung, auch jüdische Vorfahren zu haben. Lediglich darüber, wo die genau anzusiedeln seien, gingen die Meinungen weit auseinander.

Dem Artikel stelle ich ein Aquarellporträt voran, das ihr Sohn mit 22 Jahren von ihr als 53-jähriger Frau gemacht hat. Mir fällt dazu eine Formulierung ein, die sie mir in einem Brief um die Ohren gehauen hat, als ich sie mit einem inkompetenten Kommentar zu den Porträtzeichnungen Ludwig Meidners verärgert hatte. Meidner arbeitete „aus einer Fülle von Vorstellungen“.  Etwas von dieser Begabung, aus einer Fülle von Vorstellungen wählen zu können, sehe ich auch in diesem Porträt.  Denn die vor dem Mund zusammengeführten Hände sind nicht einfach ein beliebiger Einfall, sondern konzentrierte Aussage zur Person. Als Bildhauerin arbeitete sie mit den Händen. Und da sie ihr Bestes mit Porträtplastiken geschaffen hat, stehen die zusammengeballten Hände für diese Werke. Die Fingerspitzen innen veranschaulichen das darin enthaltene, pulsierende Leben. Wie der von mir verehrte Andrej Tarkowskij einmal einen seiner Helden launig sagen lässt:  Alle genialen Einfälle sind einfach.

Die gewissermaßen nach vorn stürzende Haltung ist auch sehr charakteristisch für sie, für das, was sie selbst einmal das „surplus“ ihres  Temperaments genannt hat und das etwa bei ihrer Handschrift in über die Maßen großen Anfangsbuchstaben zum Ausdruck kam. Auch ihre Augenpartie ist gewaltig intensiv wie bei Carl Seifert, nur ist sie nicht ausgreifend, raumgreifend, sondern hängend, sich versenkend. „Versenkung“ war für sie ein zentraler Begriff, wenn es ihr darum ging, die angemessene Einstellung zur Kunst zu umschreiben.

Man kann die fehlende bildhafte Befestigung des Porträts bemängeln, aber das wird durch die genannten Qualitäten leicht wett gemacht.

Das Medium der Bildhauerei setzt dem Temperament des Künstlers eine materielle Schwere entgegen, so dass es vielleicht dieses erwähnten Überschwanges bedarf, um Ausdruck durchzusetzen.

Wir werden nach und nach einige alte Photos von Porträts veröffentlichen, wobei auffällt, dass die Tschaplowitz nicht die porös belebten Oberflächen liebte, die im 20. Jahrhundert bei Porträtbüsten zum guten Ton zu gehören scheinen. Bei meinem Besuch in Naumburg zusammen mit meinem Bruder Georg Anfang der 70-er  Jahr habe ich mich auch daran versucht, eine Phantasiebüste in Ton zu modellieren. Sie gab mir einen handwerklichen Tipp, der zum Verständnis ihrer Kunst wichtig ist: nie den Ton „verstreichen“, sondern mit den Fingerkuppen immer auf plastische Zentren hin pressen.

Kaum jemand kommt heute auf die Idee, sich in  die Betrachtung einer Porträtbüste zu versenken. Solche Köpfe sind repäsentatives Beiwerk, das außerdem den Eindruck erweckt, „verstaubt“ zu sein, einer historisch so gut wie überlebten Gattung anzugehören. Man sollte allerdings wissen, dass die Porträts der Tschaplowitz aus einer solchen Versenkung in die Person ihres jeweiligen Gegenübers heraus entstanden sind.

Grete Tschaplowitz bemerkte einmal selbstkritisch, dass das Relief ihre Schwäche gewesen sei, und man versteht, was sie meinte, wenn man das Relief der Flucht nach Ägypten betrachtet, bei dem Maria und Joseph die Köpfe neigen, um sich in den Rahmen des Reliefs zu zwängen. Ein anderes Relief, das der „Verkündigung“ hat auch den Anschein der kindlichen Einfalt, ist aber in meinen Augen bemerkenswert, weil es nicht einer gewissen Hintergründigkeit und Tiefe entbehrt. Das Kindliche zeigt sich sogar in den Proportionen der Figuren, ist aber wohl nicht „regressiv“ zu nennen,  sondern spiegelt bei ihr vielleicht die Überzeugung, dass kindliche Einfachheit näher an der Wahrheit ist als Wichtigtuerei:  „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…“ Das Hintergründige sehe ich im Flügel des Engels, der sehr viel mehr an eine Ohrmuschel erinnert als einen Flügel: das Ohr Gottes.

43 Verkündigung 23 24

2023

        Isn’t she sweet?

2021

Die Künstlerin schrieb auch einmal nachdenklich in einem späten Brief, sie und ihr Mann hätten sich wohl auch aufgrund der Zeit, wegen der Kriege, nicht „großer Kunst“ widmen können. Vielleicht mehr noch als die Kriege war die ideologische Verseuchung ein Problem, von dem am ehesten Nebenschauplätze wie das Porträt und die Landschaft verschont geblieben sind. Freilich ist gerade die Landschaft die bevorzugte Spielwiese von Hobbykünstlern, und es bedarf besonderer Anstrengungen, die feinen Unterschiede herauszuarbeiten, die in der Kunst alles entscheiden.                                                        Peter Seifert jun.

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